Rede von Judith Bernstein (Jüdisch-Palästinensische Dialoggruppe)
17. Mai 2021
Vor zwei Tagen wurde an die Nakba – die palästinensische Katastrophe von 1948 erinnert. Aber die letzten Tage haben gezeigt, dass die Nakba auch nach 73 Jahren nie aufgehört hat. 1948 wurden die Palästinenser vertrieben und 2021 werden sie nach wie vor vertrieben.
Was hat sich die israelische Regierung dabei gedacht, dass dieser Zustand ewig anhalten wird? Wer Augen im Kopf hat, konnte sehen, dass diese unhaltbare Situation eines Tages platzen wird. Aber nicht nur Israel ist an der jetzigen Explosion schuld. Auch die Amerikaner und die Europäer und vor allem Deutschland. Denn seit Jahren hat man nicht nur die Aggression Israels nicht verhindert, sondern sie sogar unterstützt.
Wie wir in den letzten Tagen gesehen haben, rächt sich jetzt auch die Apartheid – die Ungleichheit zwischen jüdischen und palästinensischen Bürgern Israels. Nicht nur in Silwan und Sheikh Jarrah werden seit Jahren Häuser für Siedler enteignet. Nach dem Abzug aus dem Gazastreifen wurden z.B. in Jaffa Palästinenser zugunsten von Siedlern aus ihren Häusern vertrieben.
In Ostjerusalem, in der Westbank, in Gaza aber auch in Israel wächst eine junge Generation von Palästinensern auf, die sich nicht mehr von Israel ihren Alltag diktieren lassen will. Es ist eine Generation, die keine Perspektive, keine Zukunft und nichts zu verlieren hat. In den sozialen Medien sehen sie, wie andere Jugendliche in der Welt leben. Was sie wollen, ist in Frieden, in Würde und gleichberechtigt leben.
Herr Schuster verlangt von der deutschen Regierung Solidarität mit Israel. Um welches Israel handelt es sich? Um das der Friedensgruppen in Israel – damit kann ich mich durchaus solidarisieren. Oder meint er das Israel von Netanyahu, der die Siedler hofiert und sie großgemacht hat und seit Jahren gegen die Palästinenser, nicht nur in den besetzten Gebieten, sondern auch in Israel hetzt. Zum Nationalstaatsgesetz, das Israel zum jüdischen Staat erklärt, in dem die nicht-jüdischen Bürger auf den Sekundärstatus herabgestuft werden, habe ich keine Reaktionen von unseren Politikern vernommen. Es muss doch auch unseren Politikern klar sein, dass Netanyahu kein Interesse hat, den jetzigen Krieg zu beenden weil er sich damit erhofft, seinem Prozess zu entgehen und weiter zu regieren. Die vielen zivilen Toten in Palästina, aber auch in Israel, nimmt er dafür gern in Kauf. Ich fürchte, dass sein Kalkül aufgehen wird.
Ich verurteile jede Form von Gewalt, auch verbale Gewalt, wie sie bei manchen Demonstrationen zum Ausdruck kam. Trotzdem frage ich mich, wieso sprechen unsere Politiker wieder einmal nur vom Antisemitismus, nicht aber von den vielen Toten in Gaza.
Auch während in Palästina die Enteignung von palästinensischem Land und Häusern für Siedler, die Inhaftierung von Palästinensern ohne Gerichtsverfahren und die kollektive Bestrafung von zwei Millionen Menschen im Gazastreifen unter Belagerung stattfinden, wird bei uns über BDS und Antisemitismus diskutiert – ohne ein Wort über die Besatzung zu verlieren.
Daher frage ich mich, welche Lehren hat man heute aus der deutschen Geschichte gezogen? Warum macht sich die deutsche Politik zum Sprachrohr der israelischen Regierung? Auschwitz ist kein Freibrief für Menschenrechtsverletzungen. Die Lehre aus Auschwitz kann nur sein, dass Verbrechen gegen die Menschlichkeit, niemals und nirgendwo stattfinden dürfen – auch nicht in Palästina.
Die letzten Tage haben gezeigt, dass weder die Zwei-Staatenlösung von der unsere Politiker immer noch sprechen (wo bittschön soll der Staat Palästina entstehen?) noch die Einstaatenlösung, die von vielen favorisiert wird, möglich sind. Durch das Zögern, auf Israel Druck auszuüben, hat die sogenannte Weltgemeinschaft dazu beigetragen, dass keine Lösung in Sicht ist – eine Katastrophe für beide Völker.
(Es gilt das gesprochene Wort)
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