Die Mordnacht von Penzberg
Den Einwohnern von Penzberg, einer Kleinstadt südlich von München, bot sich am Morgen des 29.April 1945 ein grausiger Anblick: Im Stadtzentrum fand man acht Leichen, sämtlich erhängt und mit einem Schild um den Hals, auf dem die Mörder sich zu erkennen gaben: „Werwolf Oberbayern“, war zu lesen.
Wenig später wurden am Sportplatz sieben weitere Tote entdeckt, niedergestreckt durch Kopf- und Genickschüsse. Schließlich stieß man am Stadtrand auch auf die Leiche des ortsbekannten Mitglieds des Rotfrontkämpferbundes Josef Kastl, der dem Todeskommando des fanatischen Nationalsozialisten Hans Zöberlein zum Opfer gefallen war.
Was war geschehen?
Die VII. US-Armee rückte seit Mitte April 1945 in einer Zangenbewegung aus mehreren Richtungen auf München vor. Die Wehrmacht befand sich bereits im ungeordneten Rückzug. Über ganz Südbayern war schon seit Februar 1945 das Standrecht verhängt. Auf Anordnung des Münchener Gauleiters Paul Giesler, bildete sich das etwa 100 Mann starke „Freikorps Adolf Hitler“, das dem aufkeimenden Widerstand und der Desertion von Wehrmachtssoldaten durch sog. „fliegende Standgerichte“ Einhalt gebieten sollte. Aber auch die Kräfte, die sich der sofortigen Kapitulation und der Beendigung der Nazi-Herrschaft verschrieben hatten, organisierten sich: Aus dem Kreis antifaschistisch gesonnener Offiziere und Mannschaften der Wehrmacht gründete sich Anfang April 1945 die „Freiheitliche Aktion Bayern“ (FAB) – eine lose Gruppe von Kriegsgegnern mit politisch heterogener Zusammensetzung, deren zentrale Forderungen die sofortige Kapitulation, die „Ausrottung von Nationalsozialismus und Militarismus“ sowie die Erkämpfung eines sozialen und demokratischen Rechtsstaates waren. Es blieb nicht bei bloßen Bekenntnissen: Angehörige der FAB sorgten am 24. April 1945 in Koordination mit der VII. US-Armee für die kampflose Übergabe Freisings, um den Vormarsch der US-Truppen aus östlicher Richtung auf München zu ermöglichen. Auch die FAB um Hauptmann Dr. Rupprecht Gerngroß strebte danach, die letzte Bastion der nationalsozialistische Herrschaft in München, der „Hauptstadt der Bewegung“, zu brechen. Es gelang ihr, trotz zahlenmäßig geringer Kräfte (Schätzungen nennen die Zahl von 400 Soldaten), die Sendeanlagen des Reichsrundfunks in Erding und Freimann im Handstreich zu nehmen.
In den frühen Morgenstunden des 28.April 1948 sendete die FAB ihren ersten Aufruf an die Bevölkerung: „,Achtung, Achtung! Sie hören den Sender der Freiheitsaktion Bayern! Sie hören unsere Sendungen auch auf dem Wellenbereich des Senders Laibach. Achtung, Achtung! Hier spricht die Freiheitsaktion Bayern. Das Stichwort „Fasanenjagd” ist durchgegeben”. Die Wortwahl spielt auf den Umstand an, dass im Volksmund ranghohe Nazi-Funktionäre als „Goldfasane“ bezeichnet wurden. Ohne Pause riefen die Radiosendungen dazu auf, bedingungslos zu kapitulieren, die örtlichen NS-Funktionsträger abzusetzen und Sabotageakte durch Werwölfe und Reste der Wehrmacht zu verhindern. Im sog. „Nerobefehl“ vom März 1945 hatte das NS-Regime die Zerstörung aller Verkehrs-, Nachrichten-, Industrie- und Versorgungsanlagen angeordnet, damit diese dem „Feind nicht in die Hände fallen“ sollten.
Der Radioaufruf der FAB führte noch im Verlauf des 28.April 1945 in ganz Bayern zu unzähligen Folgeaktionen lokaler Widerstandsgruppen. Sprengsätze an Brücken, Eisenbahngleisen, Strommasten und Wasserleitungen wurden unter dem Einsatz des eigenen Lebens abgebaut oder entschärft, Nazi-Bürgermeister aus den Rathäusern vertrieben, Ortsgruppen des Volkssturms entwaffnet, die Redaktionsräume des „Völkischen Beobachters“ und der „Münchner Neuesten Nachrichten“ besetzt. 15 Häftlinge, denen wenige Tage zuvor die Flucht aus dem KZ Dachau gelungen war und die sich seither in einer Scheune verborgen hielten, nahmen die Radiobotschaft zum Anlass, das Rathaus von Dachau zu stürmen. Unter Leitung des Kommunisten Georg Scherer („in München ist Aufstand, wir müssen uns anschließen“) und verstärkt durch die vom Sozialdemokraten Andorfer zugeführten Kräfte gelang es der – innerhalb weniger Stunden auf ca. 150 Mann angewachsenen – Gruppe am Morgen des 28. April 1945, Bürgermeister Bäumler festzusetzen. Der Aufstand wurde aber durch die herbeigerufenen SS-Einheiten wenige Stunden später bereits wieder blutig niedergeschlagen.
16 tote Antifaschisten
In Penzberg hörte Hans Rummer, vor der Machtübernahme der Nationalsozialisten langjähriger Bürgermeister der Bergarbeiterstadt, ebenfalls den Aufruf des Senders Erding. Er zögerte keine Minute und setzte sich mit politischen Mitstreitern in Verbindung. Das „rote Penzberg“ war stets ein Ort des Widerstandes gegen das NS-Regime gewesen, bei der Reichstagswahl im November 1932 erzielte die KPD 40,3 % der Stimmen, auf die SPD entfielen 32,5%.
Man wurde sich schnell einig: Die Sprengung des Bergwerks musste verhindert werden, die Frühschicht sollte nicht zur Arbeit einrücken, mit den französischen und russischen Insassen der benachbarten Kriegsgefangenenlager musste Kontakt hergestellt werden und der NSDAP-Bürgermeister Josef Vonwerden war abzusetzen. Nachdem die Kommunisten und Sozialdemokraten um Hans Rummer das Rathaus eingenommen hatten, übermittelte man der Führung des in Penzberg stationierten 22. Werferregiments die Botschaft, der Krieg sei zu Ende und das Regiment folglich aufzulösen. Für den Nachmittag war bereits eine Kundgebung vor dem Rathaus geplant, um die Bevölkerung über die weiteren Schritte zu informieren. Der Kommandeur des Werferregiments, Oberstleutnant Berthold Ohm, reagierte anders, als von den Aufständischen erwartet: Das Rathaus wurde durch Soldaten umstellt, Rummer und seine sechs Kameraden festgenommen und Bürgermeister Vonwerden wieder in Amt und Würden gesetzt. Ohm begab sich eilends nach München, wo ihm Gauleiter Giesler den Hinrichtungsbefehl gab, der nach Rückkehr Ohms nach Penzberg um 18 Uhr durch Erschießen vollstreckt wurde.
Damit war Giesler nicht zufrieden. Er hatte bereits am Vormittag, als er von den Ereignissen in Penzberg erfuhr, seinen willfährigen Helfer Hans Zöberlein beauftragt, an den demokratischen Kräften Penzbergs Rache zu nehmen. Das Freikorps traf noch am Abend des 28. April 1945 in der Kleinstadt ein. Auf die Schnelle stellte man im Rathaus durch Zuruf eine Todesliste zusammen,auf der sowohl bekannte Antifaschisten wie auch „politisch unzuverlässige“ Personen verzeichnet waren. Das Freikorps schwärmte aus, verbrachte die Opfer in das Stadtzentrum und erhängte sie dort an Straßenbäumen.
Tags darauf rückte die amerikanische Armee in Penzberg ein. Die Täter hatten sich abgesetzt.
Die im Frühjahr 1947 aufgenommenen Ermittlungen gegen die Verantwortlichen werden vom zuständigen Untersuchungsrichter Dr. Nikolaus Naff mit Hochdruck geführt, einige hundert Zeugen werden vernommen, Haftbefehle ergingen. Die bereits in den letzten Tagen des Jahres 1947 fertiggestellte Anklage lautet auf 16 fachen Mord und Beihilfe hierzu. Die Hauptverhandlung beginnt am 14. Juni 1948 in dem zum Gerichtsaal umfunktionierten Gemeinschaftshaus in Penzberg. Auf der Anklagebank saßen 16 Angehörige des Werferregiments 22 und des „Freikorps Adolf Hitler“, darunter Berthold Ohm, der unmittelbar nach der Bluttat noch zum Oberst befördert worden war, und die Freikorpsmitglieder Hans Bauernfeind und Hans Zöberlein, die die Mordaktion des „Werwolfs“ leiteten. Der ebenfalls angeklagte Bürgermeister Josef Vonwerden war wegen einer ihm attestierten Psychose verhandlungsunfähig, er wurde erst 1951 in einem Folgeverfahren zu drei Jahren Haft verurteilt. Nach mehrwöchiger Verhandlung urteilt am 7. August 1948 das unter großer Anteilnahme der Öffentlichkeit tagende Landgericht München II: Zweimal Todesstrafe, zweimal lebenslang, fünfmal mehrjährige Haftstrafen, im Übrigen ergeht Freispruch.
Die skandalöse Milde der Justiz
Was nun folgt, ist symptomatisch für die Art und Weise, wie in den 50er Jahren mit NS-Verbrechen justiziell umgegangen wurde: Ohm, der 1948 zu 15 Jahren Zuchthaus verurteilt worden war, gelang es, in einem Verfahrensmarathon durch mehrfaches Ausschöpfen des Instanzenwegs schließlich vom Landgericht München II am 2.2.1956 freigesprochen zu werden. Er lebte fortan unbehelligt im Ruhestand und bezog eine für die damalige Zeit erkleckliche monatliche Rente von über 1100 DM. Der ursprünglich zum Tode verurteilte Bauernfeind konnte schon 1950 nach erfolgreicher Revision seinen Freispruch erreichen. Zöberlein, ebenfalls zunächst zum Tode verteilt, kam aus gesundheitlichen Gründen nach 10 Jahren Haft frei.
Aus ihrer menschenverachtenden Gesinnung machten die Täter auch vor Gericht keinen Hehl: Ohm betonte, schließlich hätte sich ein „kommunistischer Aufstand“ ereignet, den er habe auf Befehl des Gauleiters mit aller Macht habe niederschlagen müssen. Bauernfeind erklärte, er sei sich keiner Schuld bewusst, schließlich habe „Staatsnotstand“ geherrscht. Auch Zöberlein berief sich zu seiner Entlastung auf den Befehl Gieslers „sämtliche KPD-Funktionäre und sonstige Rädelsführer in der Stadt zu hängen“.
Das Landgericht München II begründet 1956 den Freispruch für Ohm mit Worten, die zeigen, wie weit die Justiz den Tätern entgegenkam: „Versetzt man sich in die Situation zurück, wie sie sich dem Angeklagten am 28.4.1945 darbot und überlegt, wie sie sich in seinen Augen spiegelte (…), dann kommt man um die Feststellung nicht herum, dass sich der Angeklagte vor die Ausführung eines Befehls gestellt sah, den er nach Sachlage inhaltlich als richtig ansehen durfte (…)“. Nicht nur ein Freispruch, sondern ein Freibrief für das Todeskommando der Nazi-Schergen, der den Opfern Hohn spricht.
Die maßgebliche Rolle für den Freispruch spielte § 47 Militär-StGB: „Wird durch die Ausführung eines Befehls in Dienstsachen ein Strafgesetz verletzt, so ist dafür der befehlende Vorgesetzte allein verantwortlich“. Gauleiter Giesler konnte indes nicht mehr zur Rechenschaft gezogen werden, er hatte sich in den letzten Kriegstagen suizidiert.
Die Entscheidungen der Revisions- und Instanzgerichte der Jahre 1950 bis 1956 führten zu breiten Protesten in der Bevölkerung: es kam zu mehreren Demonstrationen, die Penzberger Bürgerversammlung verabschiedete eine Protestresolution, für eine Stunde wurde die Arbeit in den Penzberger Betrieben niedergelegt und der öffentliche Nahverkehr ruhte. Die Süddeutsche Zeitung titelte am 19.4.1950 „Ein neues Schandurteil“.
Der hessische Generalstaatsanwalt Fritz Bauer, der gegen erhebliche Widerstände die Verfolgung von NS-Tätern in den Auschwitz-Prozessen durchsetzte, schrieb 1964:
„Wenn der Staat kriminell ist, weil er die Menschen- und Freiheitsrechte, die Gewissensfreiheit, das Recht auf eigenen Glauben, (…) das Recht auf eigenes Leben systematisch verletzt, ist Mitmachen kriminell. Es ist, wie unsere Prozesse demonstrieren sollen, möglicherweise Mord, gemeiner Mord. Dabei macht es keinen Unterschied, ob ich selber Hand anlege oder nicht. Es kommt nicht darauf an, ob an meinen eigenen Händen Blut klebt oder ob sie nur mit Tinte besudelt sind, ob ich aktiver Täter, Nutznießer oder nur beifällig nickender Zuschauer bin“.