Massenmord in Hebertshausen

Veröffentlicht in der UZ am 4. September 2020
Der größte systematische Massenmord an Kriegsgefangenen fand nahe Dachau statt, auf dem Schießplatz der SS in Hebertshausen. Von 1941 bis 1942 wurden mindestens 4.200 Rotarmisten vor den Toren Münchens erschossen. Der neu erschienene Begleitband zum „Ort der Namen“, einer Freiluftausstellung am Tatort, fasst in sieben Aufsätzen umfangreiche Recherchen zu diesem Verbrechen zusammen. Der „Kommissarbefehl“, schon niedergeschrieben vor dem Überfall der Hitler-Wehrmacht auf die Sowjetunion, war die Grundlage für die Ermordung tausender gefangener und ins Reich verschleppter Rotarmisten. In den Kriegsgefangenenlagern wurden Selektionen vorgenommen und die „Ausgesonderten“ wurden im nächstgelegenen KZ ermordet.
Dirk Riedel beschreibt in seinem Aufsatz die „reibungslose Kooperation“ zwischen Wehrmacht und dem Reichssicherheitshauptamt (RSHA) Himmlers. Insgesamt wurden 35.000 Sowjetsoldaten als „untragbar“ gekennzeichnet. Das erfolgte nach einem Katalog mit den Hauptkriterien „Politkommissar, Jude, Mitglied der KPdSU, Intellektueller“. Die „Einsatzkommandos“, die in die Kriegsgefangenenlager entsandt wurden, um die Selektionen vorzunehmen, bestanden aus fünf Angehörigen von SS und Gestapo. Ausführlich stellt Riedel dar, wie die Kompetenzen des Oberkommandos der Wehrmacht an die SS übertragen wurden. Die Wehrmacht war nach der Genfer Konvention für die Kriegsgefangenen verantwortlich. Kurz gesagt, nun musste die gründliche Wehrmachtsbürokratie Türen öffnen zum Mord durch die SS. Das geschah durch „Entlassung“ als Kriegsgefangener.
Gabriele Hammermann, Mitherausgeberin und Leiterin der KZ-Gedenkstätte Dachau, befasst sich mit der Mordmaschine der SS, wie sie in Hebertshausen ablief. Die ersten Erschießungen der Rotarmisten im August 1941 erfolgten noch im Hof des Lagergefängnisses im KZ Dachau. Aus Gründen der Geheimhaltung vor den KZ-Häftlingen, aber auch vor der Bevölkerung, wurde dann der zwei Kilometer entfernte Schießplatz der SS in Hebertshausen gewählt. Die angeführten Augenzeugenberichte von Tätern, aber auch eines Überlebenden, eröffnen ein grausames Bild. Die mit Lkw verbrachten Gefangenen mussten, entkleidet, jeweils zu fünft vor den Kugelfang treten. Sie wurden mit Handschellen an hüfthohe Pfähle gefesselt. Jeder der 20 SS-Schergen gab auf ein Kommando einen Schuss ab. Als „Schützenfest“ bezeichnete die Mörderbande diese Aktionen.
Die „Prägungen und Verhaltensmuster“ der Täter untersucht die Mitherausgeberin Andrea Riedle. Auf diesen Aufsatz muss eingegangen werden, denn er legt dar, wie die terroristische Gewaltherrschaft des deutschen Faschismus niederste Instinkte freilegte. Davon waren auch Teile der Arbeiterklasse nicht ausgenommen. Von den 180 SS-Mannschaften im KZ Dachau, die an den Erschießungen beteiligt waren, wählte Riedle 27 Biografien aus. Diese berichten durchgehend von Volksschulbildung, von Handwerksberufen wie Schreiner, Elektriker, Buchdrucker, Pförtner …, von Erwerbslosigkeit bei jeder dritten Biografie. Die SS bot Aufstiegsmöglichkeit ohne Abitur. Der Dienst im KZ war gegenüber dem Fronteinsatz bequem, trotz scharfem Drill zum „politischen Soldaten“. Die SS-Propaganda setzte die Morde gleich mit dem Kampf an der Front – gegen die „bolschewistischen Untermenschen“. Mit Geldzahlungen, Urlaub auf Capri und Schnaps nach jeder Mordaktion wurden die Mannschaften belohnt. Die Teilnahme an Erschießungen war selbstverständlich, jedoch beschreibt Riedle eine Dreiteilung: sie reichte von „fanatisch“ über „würde lieber verzichten“ bis zum Verweigern. Letzteres war aber mit „Ehrverlust“ und drohendem Fronteinsatz verbunden.
Den Schluss des Bandes bilden Biografien von neun Opfern und einem Überlebenden, dem bisher einzig bekannten. Ihm gelang es noch am Schießplatz, seine Identität zu verschleiern. Die Lebensläufe von sechs politischen Kommissaren sind zu finden. Die Recherchen aller sechs Autoren des Bandes tragen dazu bei, den Gedenkort und die Ausstellung am Tatort angemessen zu begleiten. Sie geben den Jahrzehnte lang vergessenen Opfern ihre Würde zurück. Und sie sind Mahnung gegen den Krieg und gegen die aktuelle Mobilmachung gegen Russland.
Foto: Cholo 3 / Wikimedia Commons / CC BY-SA 3.0